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+\chapter{Die lineare Struktur}
+\section{Der lineare Raum}
+Sei im Folgenden stets $\K = ℝ$ oder $\K = ℂ$. Zunächst die
+\begin{definition}[Vektorraum]
+ Sei $\K$ ein Körper. Eine Abelsche Gruppe $(X,+)$ zusammen mit einer Abbildung
+ \[
+ \cdot : \K × X → X
+ \]
+ heißt $\K$-Vektorraum, falls für alle $\alpha , β ∈ \K$ und $x, y ∈ X$ gilt:
+ \begin{enumerate}[label=(V\arabic*)]
+ \item $\alpha x+y) = \alpha x + βy$
+ \item $(\alpha +β)x = \alpha x + βx$
+ \item $(\alpha β)x = \alpha (βx)$
+ \item $1 \cdot x = x$
+ \end{enumerate}
+\end{definition}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ Je nachdem, ob $\K = ℂ$ oder $\K = ℝ$ gilt, heißt $X$ ein \emph{komplexer} oder ein \emph{reeller} Vektorraum.
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ Eine nichtleere Teilmenge $Y ⊂ X$ ist bereits dann ein linearer Raum, falls aus $\alpha , β ∈ \K$, $x, y ∈ Y$ bereits $\alpha x + βy ∈ Y$ folgt, also $Y$ abgeschlossen unter den Vektorraumoperationen ist.
+ $Y$ heißt dann \emph{linearer Teilraum} oder auch \emph{linearer Unterraum}.
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ Zu jeder Teilmenge $M ⊂ X$ bildet die Menge aller Linearkombinationen von je endlich vieler Elemente einen linearen Teilraum von $X$.
+ Dieser heißt die \emph{lineare Hülle} von $M$ oder der \emph{Aufspann} von $M$
+ \[
+ \lspan M = \left\{ x ∈ X: ∃ l ∈ ℕ, \alpha _1,…,\alpha _l ∈ \K, m_1,…,m_l ∈ M \text{ mit } \sum_{i=1}^l \alpha _i m_i = x \right\}.
+ \]
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ $M = \{x_\lambda \}_{\lambda ∈ \Lambda } ⊂ X$ heißt \emph{Basis} oder \emph{Hamel-Basis} von $X$, falls $M$ \emph{linear unabhängig}, das heißt,
+ $0 ∈ X$ lässt sich nur auf triviale Art und Weise als Linearkombination endlich vieler der $x_\lambda $ schreiben, und $\lspan M = X$ ist.
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ Besitzt $X$ eine Basis von $n < \infty $ Elementen, dann heißt $n$ die \emph{Dimension} von $X$ und wir schreiben $\dim X = n$.
+ Andernfalls heißt $X$ \emph{unendlich-dimensional} ($\dim X = \infty $).
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ Seien $X_1, X_2 ⊂ X$ lineare Teilräume. Dann ist
+ \[
+ X_1 + X_2 \coloneq \left\{ \alpha x_1 + βx_2: \alpha , β ∈ \K, x_1 ∈ X_1, x_2 ∈ X_2 \right\}
+ \]
+ ebenfalls ein linearer Teilraum.
+ Falls $X_1 ∩ X_2 = \{ 0\}$, schreiben wir $X_1 \oplus X_2$ und nennen die Summe \emph{direkt}.
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{bemerkung-nn}
+ Sei $Y$ ein linearer Teilraum von $X$. Definiere die Äquivalenzrelation $\sim$ auf $X$ durch
+ $x \sim y \Leftrightarrow x - y ∈ Y$.
+ Dann wird die Menge der Äquivalenzklassen mit vertreterweiser Addition und Multiplikation auch ein $\K$-Vektorraum.
+ Wir schreiben für diesen Vektorraum $X/Y$.
+\end{bemerkung-nn}
+
+\begin{satz}\label{01-vr-besitzt-basis}
+ Jeder lineare Raum besitzt eine (Hamel-)Basis.
+\end{satz}
+\begin{proof}
+ Folgt unmittelbar aus \cref{01-basisergaenzungssatz}.
+\end{proof}
+
+\begin{satz}[Basisergänzungssatz]\label{01-basisergaenzungssatz}
+ Sei $M ⊂ X$ eine linear unabhängige Teilmenge.
+ Dann gibt es eine Basis $B$ von $X$ mit $M ⊂ B$.
+\end{satz}
+\begin{proof}
+ Sei $P$ die durch Inklusion geordnete Menge aller linear unabhängigen Teilmengen von $X$, die $M$ umfassen.
+ Wegen $M ∈ P$ ist $P$ nichtleer.
+ Für jede totalgeordnete Teilmenge $T ⊂ P$ ist $\bigcup T ∈ P$, also $T$ durch $\bigcup T$ beschränkt.
+ Nach Zorn's Lemma besitzt $P$ ein maximales Element $B$.
+ Wäre $B$ keine Basis, gäbe es ein $x ∈ X \setminus \lspan B$.
+ Aber dann wäre $B ∪ \{x\}$ ebenfalls linear unabhängig im Widerspruch zur Maximalität von $B$.
+\end{proof}
+
+\section{Beispiele}
+\begin{beispiel}
+ Der $ℝ^n$ ist ein linearer Raum über dem Körper $ℝ$. Der $ℂ^n$ ist sowohl ein $ℂ$- als auch ein $ℝ$-Vektorraum.
+\end{beispiel}
+
+\begin{beispiel}
+ Sei $[a,b] ⊂ ℝ$, $a < b$. Dann ist
+ \[
+ C[a,b] = \{x: [a,b] → \K, x \text { ist stetig}\}
+ \]
+ ein $\K$-Vektorraum mit $\dim C[a,b] = \infty $.
+ Zum Beispiel sind die Monome $(t^k)_{k ∈ ℕ}$ ein unendliches linear unabhängiges System, jedoch keine Basis.
+ Tatsächlich ist jede Basis dieses Raumes überabzählbar.
+\end{beispiel}
+
+\begin{beispiel}[Folgenräume]
+ Es ist
+ \[
+ \ell^p = \{ x = (ξ_n)_{n ∈ ℕ} , ξ_n ∈ \K, \sum_{n=1}^∞ |ξ_n|^p < ∞ \}
+ \]
+ für $0 < p < ∞$ ein linearer Raum.
+ Die Menge der Einheitsvektoren $\{e_i\}_{i ∈ ℕ}$ mit $e_i = (0,…,0,1,0,…)$ ist eine unendliche linear unabhängige Teilmenge, aber ebenfalls keine Basis.
+
+ Genauso ist
+ \[
+ \ell^∞ = \left\{ x = (ξ_n)_{n ∈ ℕ} : ξ_n ∈ \K, \sup_{n=1} |ξ_n| < ∞ \right\}
+ \]
+ ein überabzählbar"=dimensionaler linearer Raum mit den Unterräumen
+ \[
+ c = \left\{ (ξ_n)_{n ∈ ℕ} ∈ \ell^∞: \lim_{n → ∞} ξ_n \text{ existiert}\right\}
+ \]
+ und
+ \[
+ c_0 = \left\{ (ξ_n)_{n ∈ ℕ} ∈ \ell^∞: \lim_{n → ∞} ξ_n = 0 \right\}.
+ \]
+\end{beispiel}
+
+\begin{beispiel}[Lebesgue-integrierbare Funktionen].
+ Sei $M ⊂ ℝ$ messbar und $0 < p < ∞$.
+ Dann ist
+ \[
+ \L^p(M) = \left\{f : M → ℝ, f \text { messbar}, ∫_M |f|^p \dd μ < ∞ \right\}
+ \]
+ ein unendlich"=dimensionaler linearer Raum.
+ Offenkundig ist $\mathcal N \coloneq \{ f: M → ℝ,\; f = 0$ fast überall $\}$ ein Unterraum von $\L^p(M)$, also auch
+ \[
+ L^p(M) = \L^p(M)/\mathcal N
+ \]
+ ein linearer Raum.
+\end{beispiel}
+
+\section{Lineare Abbildungen}
+\begin{definition}
+ Seien $X, Y$ lineare Räume über $\K$. $A: X → Y$ heißt \emph{linear}, falls für alle $x_1, x_2 ∈ X$ und $\alpha , β ∈ \K$ gilt:
+ \[
+ A(\alpha x_1 + βx_2) = \alpha A(x_1) + βA(x_2).
+ \]
+ $A: X → \K$ heißt \emph{lineares Funktional}.
+ Für $A$ linear heißt $R(A) = \im A = \{A(x): x ∈ X\}$ der \emph{Bildraum} von $A$ und $N(A) = \ker A = \{ x ∈ X: A(x) = 0\}$ der \emph{Kern} von $A$.
+\end{definition}
+
+\begin{bemerkung}
+ Sei $A: X → Y$ linear.
+ \begin{enumerate}
+ \item Sei $M ⊂ X $ ein linearer Unterraum. Dann ist $A(M) ⊂ Y$ wieder ein linearer Unterraum und es gilt $\dim A(M) \le \dim M$ mit Gleichheit bei Injektivität.
+ \item Es gilt
+ \[
+ A \text{ injektiv} \Longleftrightarrow N(A) = \{ 0\}.
+ \]
+ Allgemeiner ist
+ \[
+ X/(N(A)) \cong \im A.
+ \]
+ \item
+ Falls $\dim X = \dim Y = n < \infty $, dann ist $A$ genau dann injektiv, wenn $A$ surjektiv ist.
+ \item
+ $A: X → Y$ ist linear und bijektiv genau dann, wenn es eine lineare Umkehrabbildung $A^{-1}: Y → X$ gibt.
+ \item
+ Falls so ein $A: X → Y$ linear und bijektiv existiert, nennen wir $X$ und $Y$ \emph{linear isomorph.}
+ $A$ heißt dann ein \emph{linearer Isomorphismus}.
+
+ Nur falls $\dim X = \dim Y < \infty $ sind $X$ und $Y$ auch „topologisch“ isomorph.
+ In diesem Fall erhält man die Prototypen $ℝ^n$ und $ℂ^n$ für endlich-dimensionale Vektorräume und andere gibt es nicht (die sie auch als Topologische Räume isomorph sind).
+ \end{enumerate}
+\end{bemerkung}
+
+\begin{beispiel-nn}
+ $X = \{ x: [a,b] → ℝ, x, \dot x, \ddot x \text{ stetig},\; x(a) = \dot x(a) = 0\}$ ist ein linearer Raum.
+ Sei $Y = C[a,b]$ und $A: X → Y$ gegeben durch
+ \[
+ (Ax)(t) \coloneq \ddot x(t) + c_1 (t) \dot x (t) + c_2 (t) x(t), \quad t ∈ [a,b], c_1,c_2 ∈ C[a,b].
+ \]
+ Dann ist $A$ linear, weil differenzieren linear ist und $A$ ist injektiv:
+ Zunächst ist $x = 0$ eine Lösung der linearen Differentialgleichung zweiter Ordnung $Ax = 0$.
+ Die Theorie der Differentialgleichungen sagt uns, dass diese Differentialgleichung eine eindeutige Lösung des Anfangswertsproblems ist.
+
+ $A$ ist aber auch surjektiv: Sei $y ∈ Y$ gegeben, dann suchen wir $x ∈ X$ mit $Ax = y$.
+ Also wollen wir eine inhomogene Differentialgleichung zweiter Ordnung lösen.
+ Auch diese ist nach der Theorie von gewöhnlichen Differentialgleichungen eindeutig lösbar.
+
+ Also ist $A$ bijektiv, das heißt, es gibt eine lineare Abbildung $A^{-1}: Y → X$.
+ Diese Inverse ist in der Regel schlecht anzugeben.
+ Einen einfacheren Spezialfall dazu wird in der Übung behandelt.
+\end{beispiel-nn}
+
+\begin{beispiel-nn}
+ Sei $X = Y = C[a,b]$, $A: X → X$ gegeben durch
+ \[
+ (Ax)(t) \coloneq ∫_a^b k(s,t) x(s) ds, \quad t ∈ [a,b],
+ \]
+ wobei $k : [a,b] × [a,b] → ℝ$ stetig und gegeben ist.
+ Dann ist $A$ linear, da das Integral linear ist.
+ Auch ist, wenn $\lambda ∈ ℝ$ ein Parameter ist, die Abbildung
+ \[
+ (A_\lambda x)(t) \coloneq \lambda x(t) - (Ax)t), \quad t ∈ [a,b]
+ \]
+ linear.
+ Die Probleme $Ax = y$ (bei gegebenem $y ∈ Y$ und gesuchtem $x ∈ X$) oder $A_\lambda x = 0$ (gesucht ist $\lambda ∈ ℝ$ und eine nichttriviale Lösung $x ∈ X \setminus \{ 0\}$)
+ heißen Integralgleichungen erster und zweiter Ordnung.
+\end{beispiel-nn}
+
+\begin{beispiel-nn}
+ Sei $X = C[a,b]$, $A : X → ℝ$ mit
+ \[
+ Ax = x(t_0),
+ \]
+ wobei $t_0 ∈ [a,b]$ fest gewählt sei.
+ Eine andere lineare Abbildung $A: X → ℝ$ ist gegeben durch
+ \[
+ Ax = ∫_a^b x(t) dt
+ \]
+ Dann sind beide Abbildungen $A$ linear und nicht injektiv, aber surjektiv.
+\end{beispiel-nn}
+
+\begin{beispiel-nn}
+ Sei $X = \ell^2$, $A: X → X$. Für $x = (ξ_n)_{n ∈ ℕ}$ sei
+ \[
+ Ax = (0,ξ_1, ξ_2, \dots) ∈ \ell^2.
+ \]
+ $A$ heißt (Rechts-)Shiftoperator und ist linear und injektiv, jedoch nicht surjektiv.
+ Solche Abbildungen gibt es für $\dim X = \dim Y < \infty $ nicht.
+\end{beispiel-nn}
+
+\section{Duale Räume}
+$A: X → \K$ sei ein lineares Funktional, $X$ ein linearer Raum. Wir verwenden ein neues Symbol (statt $A$)
+\[
+ x': X → \K = \begin{cases} ℝ \\ ℂ \end{cases} \text{ linear}.
+\]
+Wir schreiben nun
+\[
+ x'(x) =: \langle x, x' \rangle = \langle x, x' \rangle_{X × X^f} ∈ \K.
+\]
+Wir setzen
+\[
+ X^f \coloneq \left\{ x': x' \text{ ist lineares Funktional auf } X \right\}.
+\]
+Hierbei sollte man nicht $x'$ nicht mit der Ableitung von $x$ verwechseln.
+Auch ist $\langle -, - \rangle_{X × X^f}$ kein Skalarprodukt.
+
+Der Raum $X^f$ wird auf natürlicher Weise zum linearen Raum mit
+\[
+ (\alpha x_1' + βx_2')(x) \coloneq \alpha x_1'(x) + βx_2'(x), \quad x ∈ X, x_1', x_2' ∈ X^f, \alpha , β ∈ \K.
+\]
+So ist
+\[
+ \langle -,- \rangle_{X×X^f}: X × X^f → \K
+\]
+bilinear.
+\begin{definition}
+ $X^f$ heißt der \emph{algebraische Dualraum} zu $X$.
+ $X^{ff} \coloneq (X^f)^f$ heißt der \emph{biduale Raum} zu $X$.
+\end{definition}
+
+\begin{beispiel-nn}
+ $X^{ff}$ liefert die kanonische Abbildung
+ \[
+ J: X → X^{ff}, \; x ↦ J(x) = x''
+ \]
+ mit
+ \[
+ \langle x', x'' \rangle \coloneq \langle x, x' \rangle \quad ∀x' ∈ X^f.
+ \]
+ Damit ist $x'': X^f → \K$ linear wohldefiniert.
+\end{beispiel-nn}
+
+\begin{definition}
+ Der lineare Raum $X$ heißt \emph{algebraisch reflexiv}, falls $J$ bijektiv ist (und damit $X$ linear isomorph zu $X^{ff}$) ist.
+\end{definition}
+
+\begin{bemerkung}
+ $X$ ist genau dann algebraisch reflexiv, wenn $\dim X < \infty $ ist.
+
+ Im Fall $\dim X < \infty $ lässt sich leicht eine duale Basis angeben:
+ Sei dazu $M \coloneq \{x_1,…,x_n\}$ eine Basis von $X$. Dann wird durch
+ \[
+ \langle x_i, x_k' \rangle \coloneq \delta _{i,k}
+ \]
+ und linearer Fortsetzung die Menge $ M \coloneq \{x_1',…,x_n'\} ⊂ X^f$ erklärt.
+ Dann ist $M'$ eine Basis von $X'$, die die \emph{duale Basis} von $M$ genannt wird.
+ Tatsächlich ist $X^f$ im Falle $\dim X = \infty $ wesentlich größer.
+ Man wählt deshalb eine (neue) Defintion des Dualraums:
+\end{bemerkung}
+
+\begin{definition}[Dualraum]
+ Zu einem linearen Raum $X$ ist
+ \[
+ X' \coloneq \left\{ x' : X → \K, x' \text{ linear und stetig} \right\} ⊂ X^f
+ \]
+ der Dualraum von $X$.
+\end{definition}
+Um Allerdings von Stetigkeit reden zu können, müssen wir zunächst \emph{Topologien} einführen.
+
+%%% Local Variables:
+%%% mode: latex
+%%% TeX-master: "funkana-ebook"
+%%% End: